Das poetische Bild
Das Bild muss wie ein Blitz dem Leser neue Horizonte öffnen, den geistigen Hintergrund des Lebens sichtbar machen. Das poetische Bild ist Offenbarung, es kennt die Zusammenhänge der Welt, verbindet die entgegengesetzten Ufer, die am weitesten voneinander getrennten Dinge werden auf einer Brücke zusammengeführt. Das dichterische Bild weiß um die Verwandtschaft aller Dinge, "denn auch Eisen und Korn sind Geschwister im Schoße der Erde". Geistige Zusammenhänge, gestern für den Leser noch unsichtbar, werden durch das poetische Bild zu einer neuen sichtbaren Realität.
Doch das Bild ist keine Illustrierte, es darf nicht schreien, nicht werben, Poesie ist kein Jahrmarkt. Das Bild muss leuchten, einleuchten, den Leser sehend machen, sein Blickfeld erweitern. Das Bild muß wieder Botschaft sein. Aus dem Sinnlichen kommend, muss es die Transzendenz des Lebens sichtbar machen. Hier darf der Dichter die Grenzen überschreiten, die dem logischen Denken verwehrt sind. Das poetische Bild geht über die abstrakte Vorstellung der modernen Physik hinaus. Es ist voller Wirklichkeit und gibt der Natur auf einer höheren Ebene das zurück, was die Idee, die Weltanschauung von ihr gewonnen hat.
Das bekannte Wort von Rainer Maria Rilke aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge "Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), - es sind Erfahrungen", ein Wort, das mich jahrelang begleitet hat, reicht heute nicht mehr aus. Das poetische Bild im 20. Jahrhundert muss der Erkenntnis näher stehen als der Erfahrung. Es darf nicht mehr den Gegenstand umschreiben, es muss bereits das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses sein. Alles, was ein solches Bild dann berührt, wird verwandelt, selbst die toten Dinge beginnen wieder zu leben.
Das große poetische Bild fügt der gegenwärtigen Realität immer auch die zukünftige hinzu.
Lehre dein Kind auch das Bild, nicht nur die Formel.
Hanns Cibulka