I
Schmetterling
bei der Eiablage
Lautlos
leicht, ein
kleiner
Kohlweißling
ein Weibchen
ein (h)eiliges
Geistchen
Es ist eigentümlich, wie oft erst der Verlust Bewusstsein für den Wert (des Verlorenen) schafft. Immer wieder liest man über aufwändige Bemühungen, Fluss- oder Bachläufe zu renaturieren, auch Tiere wieder heimisch zu machen, Storch, Biber, Luchs oder Wolf. Den Schwalbenschwanz kennen viele Menschen nur noch von Abbildungen her. Die Flügelwunder des Kohlweißlings entdeckt derzeit die Naturwissenschaft.
Die Farbe des Kohlweißlings wird vor allem durch weiße und gelbe Farbpigmente auf den Flügelschuppen hervorgerufen.
Einem Forscher (Werner Gnatzy) fiel bei deren Betrachtung auf, dass der Schmetterling weitaus heller wirkt, leuchtender, als es durch die Farbpigmente eigentlich sein könnte. Er präparierte die Flügel, überzog sie mit einer hauchdünnen Goldschicht und betrachtete sie unter dem Mikroskop in 40.000-facher Vergrößerung. Dem Blick, der nun bis in die einzelnen Schuppen hineinreichte, zeigten sich: kleine Perlen. Sie sind hohl und strahlen im Licht auf. Damit unterstützen sie die weißen Pigmente des Kohl Schneeweißlings und lassen ihn leuchten.
II
Raupe I
Auf Lebenswegen
ablegen können
was äußerlich ist
aufgeben einmal auch
alles, was
unverzichtbar
scheint
Auf Lebenswegen, wer
könnte Schritt halten mit
einer Raupe
III
Raupe II
Wände
beschreiben, in weiten
Frage-
lemniskaten, Un-
endlichkeitsbögen
In silbrigen
Gedankengespinsten
resignieren
Verpuppung
suchen
IV
Chrysalis
Eine Schmetterlingspuppe
gesehen zu haben
genügt
um mit Spannung
das Grau zu erwarten
der Tage
an denen nichts
geschieht
Schmetterlinge sind Lichtwesen - auf jeder ihrer Entwicklungsstufen. Ei, Raupe, Puppe und Imago können sich - im Sonnenlicht - wenigstens in Teilen ihrer Körper als transluzent oder, wie beim Apollofalter, den Hautflüglern sowie den Glasflüglern, als transparent erweisen.
Die Puppen einiger Schmetterlingsarten (Distelfalter, Kleiner Fuchs, wie auch mancher Exoten) verändern sich nach der Verpuppung noch, beginnen bald zu glänzen und bieten dann einen Anblick, als seien sie aus reinem Gold geformt. Selbst der Grünschimmer feinsten, vom Licht durchstrahlten Goldes ist an ihnen; - und immer kann man mit der (wunderbaren) Frage leben, was dieser Goldglanz bedeute. Schön sind sie und geheimnisvoll.
V
Papilio machaon
(noch in der Puppe)
Über der schönen
Wölbung des Bauches
zusammengelegt
die Flügel
Schmetterling
hochschwanger
mit sich selbst
VI
Papilio Machaon
(schlüpft)
Ein kleines, ein
winziges Knistern, ein
Riss in der Stille
der Falter ver-
lässt die
Puppen-
hülle
VII
Papilio machaon
Bis dieser Tropfen rot
wie Blut
getrocknet ist
der fiel
als du dem Puppengrab
entstiegst
bis fest
und flugbereit
die Flügel sind
schließt sich die Sternentüre
nicht, durch die du
kamst
sehen die Engel
dich
im Auferstehungslicht
Die Nacht, an deren Ende der Schmetterling schlüpft (gern in den frühen Morgenstunden) gehört nicht dem Jahreslauf an; es ist immer die Nacht von Karsamstag zu Ostersonntag.
Nach fünfzehntägiger Puppenruhe ist heute um sieben Uhr morgens innerhalb von höchstens zwei Minuten der Schwalbenschwanz geschlüpft. Nur eine Viertelstunde brauchte er, um seine Flügel zu ihrer vollen Größe auszudehnen, doch bis er flugbereit war, vergingen noch zwei Stun-den. Zeit genug, ihn anzusehen, seine Farben, seine Formen. Nach etwa einer Stunde war die Sonne so weit gewandert, dass ihre Strahlen den Raum erhellten und den Schmetterling erreichten; die Farbfelder seiner Flügel leuchteten auf wie Fenster einer Kirche.
aus: 'Wintersemester'