Einen Luftballon aufblasen

 

Es gibt Tage, da ist der Posthof nur grau und trist. An solchen Tagen hat das Gelb seinen Glanz verloren, da hat man vergessen, dass in der Vorweihnachtszeit hier manchmal silberne oder goldene, von Päckchen oder Paketen abgefallene Sternchen vor den Füßen aufglänzen konnten, und wenn es einem doch einfällt, kann man sich nur schwer vorstellen, an so etwas jemals Freude erlebt zu haben, geschweige denn Glück.

   An solchen Tagen möchte man die "Zahlpausen", die "Preisvorteile" und "Gewinnspiele", mit denen auf so vielen Sendungen der Versandhäuser und Buchklubs um Kunden geworben wird, dahin wünschen, wo sie ganz gewiss herkommen: zum Teufel nämlich. An solchen Tagen fällt es schwer, in einer nebligen Vormittagsstunde an einem Papiercontainer vorbeizufahren und nicht mal schnell ein paar Dutzend Kataloge schon jetzt dort verschwinden zu lassen, wo sie sowieso bald, – auch bei Einhaltung des vorschriftsmäßigen Weges –, landen werden.

 

An so einem Tag war ich also unterwegs, er war auch grau und kühl, es störte mich alles, die vielen geparkten Autos in den Straßen, die Enge der Gassen, man kam ja kaum noch durch. Bald würden die Leute aufstehen und zum Einkaufen fahren, das machte es nur noch schlimmer: dieses Gedränge, die Rücksichtslosigkeiten im Verkehr, der Lärm.

   Auch das Ausliefern der Pakete ging mir an diesem Morgen nicht von der Hand. Ich kam kaum voran, es dauerte an jedem Haus elend lang, und man konnte einfach nicht einen Nachbarn aus dem Bett klingeln, weil der Empfänger der Sendung leider noch schlief. – Das war mir einmal passiert, ich war dabei wohl nur knapp an einem blauen Auge vorbeigekommen, ich sehe das um Fassung ringende, zorngerötete Gesicht jenes Nachbarn immer vor mir, wenn ich in Versuchung komme, es einmal wieder zu versuchen, die "Ersatzzustellung", samstags, vor zehn Uhr am Vormittag.

   Missmutig stieg ich die Treppe zu einer renovierten, alten Villa hinauf; manchmal hatte ich mich hier an der Form der Türklinke gefreut, sie war als einwickelnde und wieder auswickelnde Spirale gestaltet, auch über die schönen Jugendstil-Schnitzereien an der Holztür, oder die farbigen Blumenmotive ihrer Fensterchen. – Heute war alles nichts. Mein finsterer Begleiter hatte es sich auf meiner Schulter bequem gemacht, es war sein Tag*.

   Ich läutete. Das Päckchen kam "eingeschrieben"; mein rosafarbenes Formular hatte ich noch nicht vollständig ausgefüllt, als krachend die Haustür einen Spaltweit aufsprang. Weiter nicht, es war eine Kette vorgelegt.

   In dem Spalt erschien ein Kind, – mit zwei Köpfen. Der untere Kopf steckte in einem grünen, einteiligen Schlafanzug und hatte, unter verstrubeltem Haar, einen Schnuller im Mund. – Der obere schwebte darüber, blickte wacher, ein Gesicht wie das untere, augenscheinlich ein Geschwisterchen.

   Ich brauchte einen Moment, der Anblick war ungewöhnlich, dann sprach ich gezielt den oberen Kopf an:

„Kannst du mal bitte eure Mutter oder euren Vater holen?“ Der Kopf nickte wortlos und verschwand.

   Der untere blieb. Aus seinem grünen Schlafanzug schaute er unverwandt zu mir empor, der Schnuller bewegte sich ein wenig. Ich konnte plötzlich wieder lächeln, mein dunkler Begleiter war verschwunden, er hatte dem Kinderblick nicht standhalten können. Erleichtert nickte ich dem kleinen Jungen zu. – Da begann er sogar zu sprechen. Der Schnuller wackelte dabei, blieb aber stecken:

 

„Du, iss kann sson allein ein Luftballon aufblasn!“

 

 

Ich weiß nicht mehr, wie es weiterging. Ob bald der Vater kam oder die Mutter dieses Kindes, dem es wichtig gewesen war, mir zu sagen, dass es schon einen Luftballon allein aufzublasen vermochte. – Ich weiß nur noch, dass dieser Luftballon immer größer wurde, so groß und so gelb wie mein Postauto und dass er unter sich ein Körbchen hatte. Da stieg ich hinein und hinauf und immer höher, bis es keine "Zahlpausen" mehr gab und keine "Gewinnspiele" oder "Preisvorteile" – und fuhr die Post, wieder über all dem Gelärme und Gedränge stehend, auch an diesem Samstagvormittag aus.

 

 


* Bei dem dunklen oder finsteren Begleiter handelt es sich um ein Teufelchen, das in den tiefen Gründen einer jeden Postbotenseele haust und ihm das Leben schwer macht. Es drängt immer zur Eile, mag gar nicht ertragen, wenn Türen nicht sogleich geöffnet werden. - Es wird in einer anderen Anekdote des Buches näher beschrieben.

 

Auszug aus dem Buch: 'Das fliegende Postauto'.