"Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?

Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet."

 

Poseidippos von Pella

aus dem Dialog über 'Kairos'

 

 

 

 

 

 

Die Erwartung

 

 

Einmal kommt der Tag der Begegnung, die Stunde des Sehens, die alles verändert. Vielleicht in der Jahreszeit rasch sich verkürzender Tage, wenn der Oktober zu Ende geht oder der November bereits gekommen ist, mit ersten Frostnächten. Die Tiere ziehen sich zurück, das pflanzliche Leben erstirbt. Was noch wächst, sind allein die Schatten; sie werden länger von Tag zu Tag, sie treiben keine Blüten.

Suchend wandert der Blick die Straßen entlang. An den Häusern streift er vorüber, deren Türen und Fenster verschlossen sind. Sein Ziel sind die Bäume, ihr noch immer sich wandelndes Bild; wo sie noch Laub tragen, ist das Grün aus den Blättern gewichen, sind die Kronen nun bernsteinfarben oder auch gelb, so gelb. Vielleicht scheint die Sonne einmal durch die Wolken, vielleicht ist der Himmel im Westen dunkel, dann ist auch der Kontrast da, dann brennen die Bäume. Ist ihre Flamme heruntergebrannt, sind die Blätter gefallen, irgendwann in diesem so geheimnisvollen Monat November, dann musst du hören, um zu wissen, wer vor dir steht, wer dir begegnet im Bild.

 

Bäume fotografieren im Herbst. Den Augenblick erwarten, da immer unvorhersehbar ein Vogel auffliegt, ein Blatt herabfällt; oder die Stunde günstig ist, da der Nebel, der den Horizont verhüllte, sich zu lichten beginnt und die herbstlich schon tief stehende Sonne für eine Minute sichtbar wird über dem entlaubten Baum, so wie van Gogh sie gemalt hat über dem Grab des Lazarus. Irgendwann ist der Augenblick da, und wer könnte vorhersagen, wofür. Fotografieren bedeutet auch: Erwartung zu leben ohne zu wissen, worauf sie zu richten wäre, aufmerksam zu sein, absichtslos vielleicht. Etwas wird kommen, eintreten, sich ereignen, ganz sicher.

Entdeckungen sind möglich. Auch heute, in Deutschland, in Westfalen; dort hingehen ist möglich, wo keiner hingeht, oder nur wenige. Auf einen alten jüdischen Friedhof. Einen Feldweg entlang. Über das weglose Gelände eines ehemaligen Rangierbahnhofs.

Doch wer wüsste denn immer sein Ziel? Wer gäbe sich ausschließlich selbst die Richtung, würde nicht auch gerufen, manchmal wenigstens, von irgendwoher, von irgendwem, unerwartet wohl auch und leise vielleicht, überhörbar: von einer Wolke, einem Fluss oder auch von herbstlichen Birken, Lärchen, Ginkgobäumen. Sie rufen mit leuchtendgelben Stimmen.

 

Fünf Jahre ist es her, dass die Birken mich riefen - oder ich ihr Rufen hörte; vom Gelände des ehemaligen Rangierbahnhofs riefen sie, oder besser: sprachen an, sprachen mich an, das ist ja auch noch ein Geheimnis, denn wie vieles sieht man, ohne zu hören. Und nicht alles, zunächst nur weniges, das dem Hören wahrnehmbar wird, ist sogleich auch begrifflich fassbar, verstehbar. Ohne also zu wissen, was oder weshalb es mich von diesen jungen Birken ansprach, ging ich hin und nahm die Kamera mit, ein paar Stunden aufmerksam zu sein und nicht zu wissen worauf, erwarten zu können, ohne eine Ahnung zu haben, was oder wen. Gelang es, so würde vielleicht, oder sogar sicher der Augenblick günstig sein.

 

Es war an einem der letzten Oktobertage, kurz vor Allerheiligen und bereits diese erste von vielen noch folgenden Erkundungen des Geländes hatte, neben den zahlreichen überraschenden Entdeckungen, Funden, auch jene so völlig unerwartete, fremde, rätselhafte, auch bedrückend bleibende, umgesägter, verstümmelter Bäume gebracht. Zumeist waren die Birken von den Eingriffen betroffen, die hier bei weitem häufigste Baumart; manche Stämme und Stämmchen lagen schon länger im Eisenbahnschotter, über Brombeerranken hingestreckt, ihr Laub war vertrocknet. Als einzelne hatte sie jemand am Saum des angrenzenden Wäldchens gefällt, wahllos, wie es schien. Auch einige der kleinwüchsigen, die zwischen den gleichförmigen Schottersteinen langsamer gewachsen waren, Birken und Lärchen, waren irgendwann grob beschnitten oder richtiger doch: abgesägt worden; manche erst jüngst, andere bereits in zurückliegenden Jahren. Letztere hatten, wo sie nicht eingegangen waren, seitlich der Schnittstellen wieder ausgetrieben, eine neue Krone zu bilden begonnen. Auch ein Bild des Winters: wenn die Blätter fielen, wurde die verkrüppelte Gestalt sichtbar.

Wer aber schnitt hier auf dem weiten, sich seit Jahrzehnten selbst überlassenen Gelände einzelne Bäume ab und ließ sie liegen? Kein System war zu finden, auch hatte offensichtlich doch niemand Holz gebraucht, denn manche der Bäume lagen, wie sie gefallen waren. Einmal traf ich eine zweistämmig gewachsene, etwa dreieinhalb Meter hohe Lärche kurz nach einer solchen, es ließ sich nicht anders sagen: willkürlichen Verstümmelung an; ich kannte den Baum, und es lag kaum mehr als eine Woche zurück, dass ich an seinen hellbraunen, röschenartigen Zapfen, viele silbrige Harztröpfchen entdeckt hatte. Nun lag einer seiner Stämme am Boden, kaum eine Handbreit über der Erde abgesägt, ein schmerzendes Bild sinnlosen Zerstörens.

Auch Fragen können quälen, brennen; das Denken ringt um Antwort, es stellt die Dinge nebeneinander, immer wieder aufs Neue, sucht die verbindenden Begriffe, Erklärung, Licht. Licht vor allem, wenn der Hintergrund sich mehr und mehr verdunkelt. - Doch allein die Fragestellung nahm Formen an, fand Begriffe: War hier möglicherweise ein Baumfrevler am Werk? Welche Motive trieben einen Menschen in solchem Tun? Oder tobten sich auf dem verlassenen Gelände Jugendliche aus, mit Kettensägen hantierend vielleicht, nachzuspielen, was sie in Filmen gesehen hatten?

Menschen waren hier selten anzutreffen, fast nie. Nicht einmal Hundehalter zogen ihre Runden. Unter der Eisenbahnbrücke lag häufig Müll, Elektroschrott zumeist, jemand kam also hierher; manchmal auch waren Lager erkennbar, Feuerstellen, die Betonwände überzogen mit frischen Graffitis: fratzenhafte Karikaturen und direkt neben der Bahntrasse seit langem schon in riesigen Buchstaben der Satz: 'Macht die Bullen tot'.

 

Manchmal muss man lange mit einer Frage leben, auf Antwort warten. Und hier: auch mit der Bedrückung, dass vielleicht etwas sich auslebt, etwas Krankes, das unerkannt, im Dunkel bleiben möchte. Und war ich einmal wieder in der unübersichtlichen, jungen Wildnis dieses verlassenen Bahngeländes unterwegs, so stellte sich bei jedem Rascheln in den Büschen, bei jedem Knacken im Gehölz nicht nur die Frage ein, ob eine Amsel, ein Fasan, ein Hase oder vielleicht sogar ein Reh es verursachen mochte, sondern immer auch leise Beklemmung, Anflüge von Schrecken, Furcht. Und alles Erwarten, auch die poetische Fantasie erhielt durch die unterschwelligen Bilder eine Richtung, einen vagen, unscharfen, auch düsteren Hintergrund. Offen zu sein, was ja auch Arglosigkeit einschließt, gelang nicht leicht.

 

Dann dieser Tag, wieder im November; der Himmel war grau, kein Wind bewegte das braune, gelbe, nur mehr spärliche Laub an den Zweigen; viele Blätter waren nach der letzten Frostnacht endlich gefallen, der Blick reichte merklich weiter, tiefer ins Gelände als noch vor einer Woche. Hagebutten gluteten vor dem Grauschwarz des Schotters, dem Silbergrau vorjähriger Brombeerranken, dem Braun der vielverzweigten Gebüsche.

Ich fotografierte seit einer halben Stunde vor den weißstämmigen Birken, auch einigen dicht mit Dornen besetzten Ranken der Hundsrose das immer noch leuchtende Rot ihrer Früchte, Samenstände. Je geringer die Tiefenschärfe, desto mehr verlieren sich die Strukturen des Hintergrundes, die Farbstimmung wird sprechender. Das für das jeweilige Motiv günstigste Verhältnis zwischen beidem zu finden, macht das Fotografieren so spannend, die Ergebnisse so vielfältig. Zum Glück war es windstill und unter dem grauen Himmel gerade noch hell genug, um ohne Stativ zu arbeiten.

In dieser Stille, mir unbekannt an diesem Ort und, wie es schien, ganz in der Nähe, das Geräusch von Schritten. Von langsamen Schritten. Man kann nicht leise gehen in diesem Schotter; bei jedem Schritt rutschen die Steine unter den Schuhen zur Seite. Ich blickte suchend und gewahrte sogleich zwischen den Birken einen Hund, so groß wie ein Schäfer, mit kurzem, braunem Fell; schon sah er auch mich, stand still. Hinter ihm ein Mann. Noch hatte er mich nicht gesehen, der Hund setzte sich wieder in Bewegung, kam näher, kam auf mich zu; er war nicht angeleint. Ich musste mich bemerkbar machen, irgendetwas rufen:

"Guten Tag!" Der Mann blieb stehen, blickte suchend. In der rechten Hand hielt er eine große Plastiktasche und noch etwas anderes. Er sah mich nun auch, wir gingen aufeinander zu.

Sein Haar war grau, ich schätzte ihn auf Mitte vierzig; seine ehemals schwarze Lederjacke an manchen Stellen abgewetzt, wirkte, wie auch die graue Cordhose, überaus getragen. So würde ich nicht auf die Straße gehen, fast zerlumpt sah er aus.

'Himmel!' durchfuhr es mich, als ich sah, was er außer der Plastiktüte noch in der Hand hielt: Eine Säge! - Eine große Bogensäge! Die Gedanken flogen. Sah so ein Mann aus, der Birken absägte, Lärchen verstümmelte? War das jetzt dieser Mensch? Blass erschien er mir, ein wenig rotfleckig war sein Gesicht. Immer hatte ich für möglich gehalten, ihm zu begegnen, manchmal fast damit gerechnet. Wenn er aber seelisch krank war, wovon ich ausgehen musste, wie sollte ich mich verhalten? Hier hörte und sah uns kein Mensch.

Seine Augen blickten unsicher. "Sie müssen keine Angst haben vor dem Hund." sagte er mit leiser, etwas instabiler Stimme. Ein armer Kerl, dachte ich und: Was mag er schon durchgemacht haben in seinem Leben. Der Mann sprach weiter:

"Er ist mir zugelaufen im Sommer." Mit der Hand deutete er an mir vorbei, über das Gelände:

"Da hinten, am Schwarzen Weg, wo die Schrebergärten sind." Ich nickte, war mit den Ortsverhältnissen vertraut; er erzählte weiter:

"Der Hund ist seitdem bei mir, bleibt immer in meiner Nähe. Ich habe die Leute gefragt, ob jemand weiß, wo er herkommt, wem er entlaufen sein könnte. Aber niemand wusste was."

Mir gelang es, den Blick von der Säge zu lösen, den Gesprächsfaden aufzunehmen; ich antwortete:

"Manchmal suchen die Tiere sich ihr Zuhause auch selbst".

"Ja", meinte er, blickte zu dem Hund, lächelte etwas. Öffnete dann, in einer spontanen Bewegung und wie man es eigentlich nur tut, wenn man jemanden kennt, die große Tragetasche, ließ mich hineinsehen: Äste lagen darin, kurzgeschnitten, die meisten kaum mehr als fingerdick und sämtlich ziemlich gerade gewachsen. Ich nickte wieder, blickte ihn fragend und völlig verständnislos an. Und erneut etwas zögernd erklärte er mit leiser Stimme:

"Ich will eine Krippe bauen."

 

Er will eine Krippe bauen! klang es in mir nach und ich hörte mich sagen:

"Natürlich, ist ja schon bald Ende November, jetzt muss man anfangen, wenn sie bis Weihnachten fertig werden soll." Und: "Hier finden Sie genügend Holz für eine Krippe."

Er lächelte erneut, noch immer unsicher, vielleicht verlegen; nickte mir zu, rief den Hund und verabschiedete sich, die Hand zum Gruß hebend.

 

Ich blickte ihm nach. Das Rätsel der gefällten, verstümmelten Bäume blieb ungelöst. Doch etwas Größeres war geschehen: mir schien, die Welt habe kurz stillgestanden, in dem Augenblick, als der Baumfrevler sich in einen Krippenbauer verwandelte; und dann hatte sie wieder begonnen, sich zu drehen - anders herum.

Vor einem Jahr, auch im November und ebenfalls an einem stillen Tag wie heute, war es ein Schmetterling gewesen, ein Admiral, dem zu begegnen mir in dieser erstorbenen Natur wie ein Märchenbild erschienen war. Und hatte schon der Schmetterling von Verwandlung gesprochen, um wie vieles mehr nun dieser Mensch, der das jahrelang auf meinen Wegen schattenhaft mich begleitende Dunkel so gänzlich unerwartet mit einem zarten - weihnachtlichen - Lichtschein zu umhüllen vermocht hatte.

Wir begegneten einander an diesem Nachmittag noch einmal. Jetzt ging der Mann direkt auf mich zu, fragte, was ich fotografiere? Ich erzählte von den Birken, vom Licht in ihren Blättern und auch von dem Novemberschmetterling des vergangenen Jahres; zuletzt noch ein paar Worte über die Stille in der Natur.

 

"Ich bin auch gern hier", sagte er. "Es tut so gut, mal allein zu sein."